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Erinnerungen (Willi Berlin) Teil: 1

Willi Berlin, Berlinchen in der Mark Brandenburg

Sehr ausführlich hat uns der 83jährige Willi Berlin seinen Lebenslauf aufgeschrieben,
aus dem wir nur einen kleinen Auszug abdrucken können. Dieses Leben verlief ganz anders als das seiner Frau Ida. Aber auch dieses Leben ist bestimmt von Kriegserlebnissen, von Gefangenschaften, Leid und Not in den ersten Nachkriegsjahren, von Neuanfängen und von Neuorientierungen, aber auch von wundersamen Fügungen und von einem neuen Anfang in Allmersbach im Tal.

Willi Berlin wurde am 14. Mai 1918 als zweiter Sohn des Bauern Paul Berlin und seiner Ehefrau Emma aus Berlinchen, Kreis Ostprignitz in der Mark Brandenburg geboren. Die Familie lebte mindestens seit dem 17. Jahrhundert im Dorf. Der Familienname Berlin und der Ortsname Berlinchen deuten darauf hin, dass eine enge Verbindung zwischen dem Dorf und der Familie bestand, möglicherweise hat das Dorf den Namen von der Familie oder die Familie den Namen vom Dorf.

Nach dem Besuch der Volksschule und der Landwirtschaftsschule in der Kreisstadt Wittstock arbeitete Willi Berlin auf dem eigenen Hof. Nach dem Reichsarbeitsdienst an der Ostsee wurde Willi Berlin am 1.September 1939, also gleich zu Beginn des Krieges, mit 21 Jahren, Soldat. Im Mai 1940 war er beim Einmarsch der deutschen Wehrmacht in die Niederlande dabei. Im April 1941 wurde er in Polen stationiert; ab Juni 1941 musste er dann mit nach Russland marschieren.

Am 16. Januar 1943 wurde er in Russland Kriegsgefangener. Er kam in den Ural, das Grenzgebirge zwischen Europa und Asien, in das Lager Schumicha und musste dort Zwangsarbeit verrichten. Sein Weg als Kriegsgefangener führte ihn weiter in ein Kohlebergwerk in Karaganda, das in Kasachstan, einer asiatischen Provinz der ehemaligen Sowjetunion liegt. Zum Glück durfte er dort über Tage arbeiten. Krank und unterernährt kam er erneut ins Lazarett. Er schrieb über diese schwere Zeit wir waren alle nur noch Gerippe. Einer russischen Ärztin habe ich mein Überleben zu verdanken. Sie hat mir unerlaubterweise des öfteren Traubenzucker gegeben und mir kleine Stückchen Butter mitgebracht. Sie hatte Mitleid mit uns armen und ausgehungerten Kreaturen.
Im Oktober 1944 wurde Willi Berlin in der Nähe von Moskau verlegt, wo er in einer Kolchose arbeiten musste.
Am 1.November hatte ich das Glück, bei einem der ersten Rücktransporte für Kranke dabei zu sein. Es war ein großes Glück für mich, viele wünschten sich nichts mehr als dabei zu sein Viele weinten, weil ihr Name nicht aufgerufen wurde. Mit diesem Transport wurden etwa 800 kranke Kriegsgefangene nach Deutschland zurückgebracht. Ich war an Ruhr (bakterielle Infektionskrankheit mit Durchfällen und hohem Fieber) erkrankt und ganz und gar entkräftet. Wir wurden mit dem Zug transportiert, teilweise in offenen Güterwaggongs. Es hieß, dass etwa 150 Gefangene den Transport nicht überlebten. Nach fast einem Monat kamen wir am 27. November 1945 in Frankfurt / Oder an. Dort wurde ich, nach fast drei Jahren Gefangenschaft, aus der russischen Kriegsgefangenschaft entlassen. Wir sahen aus wie Russen. Keiner von uns hatte seinen Bart rasiert, hatten Wattehosen an und russische Uniformen. Ich bin dann weiter in Richtung Heimat. Schon am nächsten Tag kam ich nach Berlin und am selben Abend noch erreichte ich Wittstock, die nächste Kleinstadt zu meinem Heimatort Berlinchen. Ich weiß noch, dass Stromsperre war. Ich bin dort in ein Gasthaus zu Familie Gädke, wo wir früher, vor dem Krieg, immer die Pferde ausgespannt haben. Die erkannten mich erst gar nicht. Als sie mich erkannten, haben sie mir zu essen gebracht, Eier und Wurst. Aber ich konnte das ja gar nicht mehr vertragen, soviel zu essen. Dort erfuhr ich dann auch, dass mein Vater noch lebt und auch dass er wieder geheiratet hatte. Meine Mutter war während des Krieges gestorben. Das wusste ich. Aber ansonsten hatte ich ja seit mehr als 4 Jahren nichts mehr von ihm gehört und mein Vater auch nichts von mir. Ich wollte dann telefonieren mit meinem Vater, aber das ging nicht. Ich bin dann weiter, abends um 22.00 Uhr zu Fuß nach Berlinchen. In Berlinchen bin ich zuerst zu meinem Onkel, Walter Berlin, gegangen. Ich wollte nicht gleich zu meinem Vater, weil ich fürchtete, dass er womöglich einen Herzschlag bekommt, wenn ich plötzlich dastehe.
Die glückliche Heimkehr erinnert an die Heimkehr des Sohnes im biblischen Gleichnis und an die offenen Arme des Vaters an der Haustüre in Rembrandts berühmtem Bild. Das Wiedersehen von Vater und Sohn, der immer an die Rückkehr des vermisst gemeldeten Willi geglaubt hatte, beleuchten wir aus der Perspektive von Ida Hornung, seiner späteren Ehefrau.

Sie erzählt:,, Ein paar Tage vor Willis Rückkehr, ich war im Raum mit der Milchzentrifuge, kam Willis Vater, Paul Berlin, herein. Er fragte mich: Weißt Du eigentlich, Dass ich noch einen Sohn habe? Er ist als vermisst gemeldet, ich glaube das aber nicht. Ich glaube das er lebt.“ Vom Tag der Heimkehr erzählt sie:,, Das Haus von Berlins war voller Flüchtlinge. U.a. waren dort auch mein Onkel Adam mit seiner Familie untergekommen. Das haus war übervoll. Nie war Platz. Wenn einer raus ging, ist ein anderer hineingekrochen. An dem Tag, an dem Willi heim kam, hab ich gerade einem verängstigten Buben, der nicht einschlafen konnte, das Märchen vom Aschenbrödel erzählt. Da kam jemand auf das Haus zu. Die anderen sagten, das sei Onkel Walter, der Bruder von Paul Berlin, der einen Russen mitbringe. Ich höre aus dem Nachbarzimmer zu und hörte:,, Mein Junge! Mein Junge! Das du da bist!“ Dann hörte ich:,, Vater, das du lebst!“

Quelle:
Eine Flüchtlingsfamilie findet in Allmersbach eine neue Heimat

Der lange Weg der Familie Berlin von Gnadental in Bessarabien und von Berlinchen in Brandenburg nach Allmersbach im Tal
Walter Dietz Allmersbach im Tal, in Zusammenarbeit mit Gudrun Berlin, München

Dieser Text wurde von Martin Gädke zur Verfügung gestellt.